Zukunft. Radikal offen

Mein Blick gleitet über ein Mindmap von George Steinmann. Feine Linien verbinden Kreise und Punkte aus Heidelbeersaft oder Kupfer zu einer Gitterstruktur. Ein lasierendes Weiss verweist auf mehrere Malschichten und betont die Verdichtung innerhalb des Blatts. Steinmanns Zeichnungen sind stets eine Mischung von bewusster Setzung und Zufall – so lassen sich anhand auslaufender und verwischter Pflanzensäfte die Spuren des Windes erahnen. In Bleistift sind Wortfragmente des Künstlers zu lesen: «Unfall», «Nicht linear», «Das Unvorhergesagte», «Die Zukunft ist radikal offen». Und damit sind wir mitten im Thema angelangt: Future Now. In der Aussage, dass die Zukunft radikal offen ist, mag etwas Verheissungsvolles mitschwingen. Wir können ihr Schicksal (noch immer) beeinflussen. Für unsere gemeinsame Zukunft. Jetzt.

Wir tun nicht, was wir wissen

Seit über dreissig Jahren beschäftigt sich Steinmann mit den Fragen der globalen Umweltkrise und damit einhergehend mit den Auswirkungen unseres weltlichen Tuns. Ein Thema, das aktueller denn je erscheint. Der Klimawandel beispielsweise ist keine Zukunftsmusik, sagt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgeforschung im Juli 2021 – nein, wir stecken mittendrin.[1] Dabei, so Rahmstorf, sei das Pariser Klimaabkommen zwar physikalisch und technologisch umsetzbar, einzig auf politischer Ebene unrealistisch.

Was läuft hier schief? Eine Frage, die Steinmann sowohl umtreibt wie auch antreibt. Der Lyriker Erich Fried schreibt 1981 «Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.»[2]. Im Rahmen des Prix Thun für Kunst und Ethik[3] formuliert dies Steinmann Jahre später in seinen Worten: «Wir tun nicht, was wir wissen»[4]. Sie beide entlarven den Widerspruch, dass wir über theoretisches Wissen verfügen, unsere Handlungen hingegen nicht daran ausrichten. Weitergehend wirft Steinmann die Frage in den Raum, warum die Meinungen und das Wissen der Künste bei all den grossen Fragen nach unserer Zukunft in grossen Teilen der Politik (noch immer) keine Rolle spielen.

In seinem künstlerischen Schaffen verbindet Steinmann Kunst, Wissenschaft und indigenes Wissen zu einem holistischen Bild von Natur. Über die Jahre hinweg hat er auf seinen Expeditionen im Berner Oberland bis hin zur russischen Arktis einen unglaublichen Fundus aus Büchern, ausgeschnittenen Artikeln, Statements und Studien, gefundenen Objekten sowie Pflanzen- und Materialproben zusammengetragen, wovon auch der vorliegende Katalog zeugt. Sein Atelier ist zum Ort der konzeptuellen und intellektuellen Denkarbeit geworden – stets mit Fokus auf die Frage nach einer nachhaltigen Zukunft. Im Zentrum steht allerdings nicht die dogmatische Belehrung, viel eher schickt der Künstler Einladungen zum Dialog in die Welt hinaus. Die komplexe gesellschaftliche Realität des 21. Jahrhunderts lässt keine disziplinäre Vereinfachung mehr zu und gemeinsam in einen Dialog zu treten, wird für den Künstler immer substanzieller.[5]

Die Kunst des Dialogs

«Is my microphone on? Can you hear me?», fragt die Klimaaktivistin Greta Thunberg während ihrer Rede im britischen Parlament vom 23. April 2019.[6] Sie fragt, weil sie immer und immer wieder das Gleiche sagt und doch keine Antwort kriegt. Weil sie es satthat, gefühlte Monologe zu halten. Für eine Kunst mit Wirkung ist das Dialogische bei Steinmann jedoch wesentlich. Aber was ist ein «Dialog»?
Um dem Ursprung auf die Schliche zu gehen, lohnt es sich die Umschreibung des Quantenphysikers David Bohm zu studieren, der mit «Dialog» [7] das Fliessen von Sinn und das Erschliessen von Bedeutung, um und durch die Menschen bezeichnet.[8] Dialog ist keine Debatte und kein Disput, sondern gewichtet den Gewinn von Einsichten und Erkenntnissen für alle beteiligten Personen als Hauptanliegen. Im Dialog kommen alle unsere Gefühle, Wünsche, Absichten, Ängste, Unterstellungen wie auch rationales Gedankengut als Ergebnis vorausgegangener Denkprozesse zum Ausdruck. Wollen wir zu allumfassenden Erkenntnissen gelangen, so ist es laut Bohm unumstösslich in einen Dialog zu treten. Das eigene Bedürfnis wird dabei nicht etwa abgeschwächt, sondern als eines von mehreren berücksichtigt. Das Erkennen, dass wir alle unsere eigene Perspektive auf die Welt haben und dies als eine gemeinsame Wahrheit in einer pluralen Welt zu verstehen, erkennt auch Hannah Arendt als den Anfang eines Dialogs.[9] Doch angesichts der globalen Entwicklung scheinen wir auf vielfacher Ebene weit weg zu sein von diesem Ideal. Bevormundung und Ausbeutung von sozial Schwächeren sind immer noch üblich, Egozentrik, Konkurrenzdenken und Profitstreben bestimmend. Dennoch oder gerade deswegen erkennt Steinmann im Dialog eine produktive und bewegende Kraft, die zu gemeinschaftlichem und holistischem Agieren führen kann. Und man stelle sich vor, wie kraftvoll es sein könnte, wenn wir es weiter schaffen unser Ego im Sinne des Gemeinwohls zurückzustecken – uns als Teil der Gemeinschaft anzuerkennen. Oder wie der Philosoph Jürgen Habermas es umschreibt: «Solidarität ist keine Nächstenliebe. Wer sich solidarisch verhält, ist bereit, sowohl im langfristigen Eigeninteresse wie im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, kurzfristig Nachteile in Kauf zu nehmen.»[10] Steinmann spricht hier von einer Kultur des gegenseitigen Respekts.[11]
Auch Greta Thunberg macht durch den Ausdruck ihrer Empörung offensichtlich auf eine menschliche Schwäche aufmerksam: Die Verleugnung. Wenn wir nicht tun, was wir wissen, dann müssen wir folglich neu lernen. Wir müssen das Wechselspiel von Individuum und System und die ineinandergreifenden Effekte anerkennen, ohne die persönliche Verantwortung des Einzelnen dabei zu leugnen. Nein, vielmehr uns als verantwortungsvolle Akteur*innen erkennen. Kunst in Form von Wissensgenerierung hat das Potenzial dazu zu verhelfen das theoretisch vorhandene Wissen zu einer verkörperten Erkenntnis zu transformieren.

In Bewegung bleiben

Und hier setzt Steinmanns künstlerische Haltung an, mit der er Kunst als gesellschaftsbezogene Praxis versteht. «Sie [Kunst] ist Stellungnahme, benennt Spannungsfelder, engagiert sich konstruktiv und schaut genau hin, was aus dem Planeten Erde im Anthropozän wird.»[12] Ihr unterliegt in erster Linie ein ergebnisoffener und prozessorientierter Vorgang.
An diese Vorstellung von Kunst werden wir spätestens im aktuellen 100. Geburtsjahr von Joseph Beuys erneut erinnert. Beuys hat die Kunst aus der Beschäftigung mit sich selbst befreit, bezeichnet der Kunsthistoriker Philip Ursprung dessen wichtigstes Erbe.[13] Künstler*innen sollen sich ins Leben miteinmischen. Im kunsthistorischen Diskurs wird seit den 1990er-Jahren eben diese Verbindung von Kunst, Politik und Ethik verstärkter befragt.[14]
Steinmann selbst spricht von einer Ästhetik der Verantwortung: «Kunst ist wichtig und auch in Konfliktsituationen keineswegs ein Luxus. In der Kunst- und Kulturförderung liegt ein grosses Potenzial für Konfliktverhütung, Konfliktlösung sowie für den Wiederaufbau nach Konflikten.»[15] Im Wissen dieser Wichtigkeit kreiert er wachsende Skulpturen: forschende, unscharfe und sich stets transformierende Kunstwerke. Sie fungieren als Plattform und Labor für Dialoge. Um sie zu ergründen, lädt er uns zur Beteiligung daran ein. Uns als aktive Mitgestalter*innen der Werdung unseres Selbst sowie unserer Erde. Wachsen bedeutet für den Künstler nicht grösser und schneller zu werden, sondern ist ein Wellengang: Entstehen, sein und vergehen. Stete Transformation.
Nur wenn wir miteinander sprechen, werden wir einander verstehen. Nur wenn wir uns verstehen, können wir unseren Horizont erweitern. Nur wenn wir neue Perspektiven einnehmen, können wir an der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft für alle teilhaben – weiterwachsen.
Wenn ich zu Beginn die Arbeit «Die Zukunft ist radikal offen» als Ausgangspunkt des Essays nehme, dann scheint mir neben dem Titel vor allem die beschriebene Netzwerkstruktur besonders interessant. Gehen wir vom Dialogischen aus, dann bedeutet dies Ausbrechen aus unumstösslichen Realitätswahrnehmungen und Mustern, Verlernen eingrenzender Kategorisierungsmechanismen, hin zu einem Denken in Netzwerken, in der die kommunikativen Beziehungen zentral sind. Kunst als Indikator wie Werkzeug und mit dem Potenzial unsere Wahrnehmung auf ästhetischer Ebene zu erweitern, leistet diesbezüglich einen wertvollen Beitrag zu unseren grossen Fragen nach der Zukunft.

Was hat das mit der Ausstellung in der Stadtgalerie zu tun? «Future Now» ist keine Zukunftsvision mit Weltuntergang, sondern mit Hoffnung. So verheissungsvoll wie der Titel des beschriebenen Mindmaps. Einmal mehr bekommen wir die Möglichkeit, die Stadtgalerie als Ort des Dialogs einzunehmen und eine Wissensallmend zu kreieren, um aus einer betroffenen Haltung heraus mit jeder Geste der Gegenwart die Zukunft – auch die einer nachhaltigen Kunst- und Kulturszene – mitzugestalten. So wie die Stadtgalerie als prozessorientierter und transformierender Ort sich inhaltlich und architektonisch stets weiterentwickelt. Im Lichte der drohenden Schliessung der Galerie glaube ich fest daran, dass – und damit will ich nichts schönreden – nur verloren geht, was stillliegt.
Manche Dinge sind gewiss. Alle wachsenden Skulpturen kommen zu einem Ende. Auch wenn wir niemals zu dem zurückkehren können, was einmal war, können wir noch immer an einer Zukunft arbeiten, die wir uns gemeinsam wünschen. Denn die einzige Konstante in unserem Leben bleibt die Veränderung.[16] Future is Now.

Katrin Sperry (*1986 in St. Gallen, arbeitet in Bern, CH) ist freischaffende Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte im Master «World Arts» und «Gender Studies» an der Universität Bern. Es folgte eine mehrjährige Tätigkeit im Kunstmuseum Thun sowie im Atelier George Steinmann. Sie ist die künstlerische Leitung und Kuratorin des Benzeholz – Raum für zeitgenössische Kunst, Jurypräsidentin des Aeschlimann Corti-Stipendiums und Sammlungskuratorin der Berner Kantonalbank.
www.katrinsperry.ch

 

[1] Siehe Stefan Rahmstorf, Die heilige Greta? Die Zeit online, https://www.zeit.de/2021/30/fridays-for-future-klima-religion-umweltschutz (abgerufen am 11.8.2021).

[2] Erich Fried, Status quo (zur Zeit des Wettrüstens), in: Lebensschatten, Berlin 1981, S. 93.

[3] Ein von George Steinmann initiierter Kunstpreis (2016/2017/2018) in Form einer wachsenden Skulptur. Im Zentrum steht eine Wertediskussion über die Wechselwirkung von Kunst und Ethik. Zielsetzung ist es, die Innovationskraft künstlerischer Strategien für die Entwicklung nachhaltiger, ökologischer und kultureller Prozesse zu fördern.

[4] George Steinmann, Rede zur Preisverleihung, in: Prix Thun für Kunst und Ethik, Bern 2016, S. 10.

[5] Anja Seiler, Einblicke in den Denk-Kosmos von George Steinmann, in: Call and Response, Zürich 2014, S. 105-106.

[6] Nathan Grossman, I am Greta [Film], Schweden, USA, Deutschland, England, B-Reel Films, Hulu, WDF, 2020.

[7] «Dialog» stammt vom griechischen Wort «dialogos» ab. Logos als «Wortsinn» oder sinnvolles Wort, dia als «durch» (nicht zwei).

[8] Siehe David Bohm, Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen, Stuttgart 1998, S. 32-34.

[9] Jörg Paul Müller, Dialog als Lebensnerv der Demokratie, Basel 2021, S. 54.

[10] Jürgen Habermas, Sind wir noch gute Europäer? In: Die Zeit, 5. Juli 2018.

[11] Anja Seiler, Einblicke in den Denk-Kosmos von George Steinmann, in: Call and Response, Zürich 2014, S. 105.

[12] George Steinmann, Rede zur Preisverleihung, in: Prix Thun für Kunst und Ethik, Bern 2016, S. 10.

[13] Achtung Beuys – Aktionskünstler, Visionär, Provokateur, in: Sternstunde Philosophie, https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/achtung-beuys—aktionskuenstler-visionaer-provokateur?urn=urn:srf:video:de0a2949-6738-4178-83fa-03873634a3f3 (abgerufen 3.8.2021).

[14] Vergleiche Michel Foucault (1992), Nicolas Bourriaud (1998) oder Claire Bishop (2004).

[15] Statement von George Steinmann, Kunst als gesellschaftsbezogen Praxis, 2007.

[16] (Nicht nur eine) Yogi Tee-Weisheit.

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